
Die Sprache des Fußballs führt eine Art Eigenleben, immer wieder werden Begriffe adaptiert, eingeführt oder erfunden. Erst am vergangenen Wochenende hat Heidenheims Frank Schmidt den Terminus „Arbeitsniederlage“ gewählt, während in Dortmund nach dem 1:2 gegen den VfB Stuttgart in zahlreichen Analysen ein anderes Wort strapaziert wurde.Ein Begriff, der zwar nicht ganz neu ist im Fußballumfeld, der aber nur selten im Mittelpunkt der Analysen steht: die „Entscheidungsfindung“, mit der sowohl der Dortmunder Verteidiger Waldemar Anton wie auch Sportdirektor Sebastian Kehl und Trainer Niko Kovac haderten. Die Erzählung der Dortmunder ging ungefähr so: Eigentlich sei das Spiel gut gewesen, nur ein paar kleine Fehlentscheidungen hätten zur Niederlage geführt.Darüber lässt sich streiten, eine „Arbeitsniederlage“ war das 1:2 der Dortmunder sicher nicht, was sich schon an den zurückgelegten Kilometern ablesen lässt. Die Spieler des SC Freiburg liefen 128 Kilometer, die Heidenheimer 124 Kilometer. Die Dortmunder Mannschaft kam am Samstag auf eine Laufstrecke von 110,1 Kilometern, genau wie der VfB.BVB ohne KontrolleDas waren – zumindest vor den Sonntagspartien – die mit großem Abstand geringsten Laufleistungen. „Da war nicht viel drinnen“, sagte der Stuttgarter Trainer Sebastian Hoeneß, der sein Team nach anstrengenden Wochen mit Champions League und DFB-Pokal dafür lobte, eine „passive Kontrolle“ über die Partie im Revier erlangt zu haben. Der BVB hatte gar keine Kontrolle.Dabei kamen die Dortmunder aus einer Woche ohne Pokalspiel. Es wäre naheliegend gewesen, die müden Stuttgarter mit Intensität und Leidenschaft zu bekämpfen, die Fans im Stadion zu entflammen für eine gewaltige Unterstützung. Dortmund zeigte ein paar ordentliche Spielzüge, eine gewisse Qualität ist vorhanden, doch eine Mehrheit des weiterhin zweitteuersten Kaders der Liga scheint immer noch zu glauben, technisch überlegen zu sein und Partien zuallererst mit der Kunst des Spiels gewinnen zu können. Oder allein auf die Wirkung eines neuen Trainers zu vertrauen. Das hat ja schon oft funktioniert.Dortmund erlitt eine Art „Arbeitsverweigerungsniederlage“, was besonders gut auf dem Weg zum 0:2 erkennbar war. Tief in der eigenen Hälfte verlor Serhou Guirassy den Ball. Statt jedoch anschließend beim Verteidigen zu helfen, joggte er mitten im gegnerischen Angriff zurück in seine Stürmerposition. Sekunden später schoss Jeff Chabot genau in dem von Guirassy freigegebenen Raum den zweiten Treffer für Stuttgart.Abermals unbefriedigendDer Hinweis auf Schwächen in der „Entscheidungsfindung“ ist nicht ganz falsch, aber auch ein Euphemismus, der eine riesengroße Enttäuschung überdecken soll: Am Ende der ersten Woche unter Niko Kovac steht nämlich die Erkenntnis, dass nichts besser geworden ist – im Gegenteil. Die Mannschaft agierte – so das Gesamtbild – abermals unbefriedigend. Etliche Profis spielten schlicht und einfach schwach: Karim Adeyemi wirkte wirr, Marcel Sabitzer war kaum sichtbar, Pascal Groß erschien träge, Julian Brandt gehemmt, Torwart Gregor Kobel im Spielaufbau fehlerhaft.Es mag verständlich sein, dass die Vereinsführung trotzdem versuchte, das Positive in den Vordergrund zu stellen. Sie hält an der ohnehin ziemlich verkümmerten Zuversicht fest. „Das Ergebnis war das Einzige, was nicht gut war, der Rest war in Ordnung“, behauptete Kovac: „Die Jungs haben heute alles gegeben, wir hätten nicht als Verlierer vom Platz gehen dürfen. Die Mannschaft hat einiges gut umgesetzt, mit dem Ball und gegen den Ball.“ In Wahrheit leistete sich Dortmund einen Rückschritt.Das erste Spiel des BVB unter dem neuen Trainer Niko Kovac glich einem Rückschritt.picture alliance / osnapixManche Beobachter beschreiben den Verlauf der Saison auf dem Spielfeld als größte BVB-Krise der vergangenen zehn, zwölf Jahre. In den drei Partien unter dem für seine Motivationskunst bekannten Mike Tullberg waren die Leistungen immerhin von Hingabe und Leidenschaft geprägt, unter Kovac erledigten die Profis wieder Dienst nach Vorschrift, wie in der Spätphase des im Januar entlassenen Nuri Sahin.Sebastian Kehl formulierte nach dem Spiel gegen Stuttgart vielsagend: „Das 1:2 zeigt, dass wir nichts geschenkt bekommen in dieser Saison.“ Diese Worte implizieren die Vorstellung, dass man in besseren Phasen Geschenke bekommt, also einen Lohn, ohne zuvor seriös und intensiv gearbeitet zu haben. Dieser Gedanke wirkt grundsätzlich wie Gift im Fußball.Kehl ist aber offenbar der Ansicht, dass der BVB mal wieder Geschenke verdient gehabt hätte. Er sah, dass sein Team „in vielen Phasen ein gutes Spiel“ gemacht habe. Offenbar ist er der Ansicht, dass bis auf kleine Details alles gut war: „Es hat in der letzten Entscheidung das Glück, vielleicht auch eine Klarheit, eine Zielstrebigkeit gefehlt.“ Das war eine bemerkenswerte Aussage, denn diese Beschreibung trifft nicht nur auf diese eine Partie zu. Glück mit Entscheidungen, Klarheit und Zielstrebigkeit fehlen beim BVB derzeit auf allen Ebenen.Sanierungsarbeiten auf der FührungsebeneZwei Tage vor der Partie hatte der Klub mit wenigen Worten bekannt gegeben, dass der Technische Direktor Sven Mislintat entlassen worden sei. Er ist so heftig mit Kehl verstritten, dass eine weitere Zusammenarbeit nicht mehr möglich war. Das war ein erster Schritt in einem Prozess, der parallel zu den Bemühungen von Niko Kovac läuft. Der neue Trainer muss die Mannschaft reparieren, während eine Stufe oberhalb Sanierungsarbeiten anderer Art notwendig sind.„Bekommen nichts geschenkt“: Sportdirektor Sebastian KehlReutersIm Raum stehen grundsätzliche Fragen zur Führung des Klubs, die der langjährige Chef Hans-Joachim Watzke gerne langsam an passende Nachfolger übergeben würde. Die Schwierigkeiten in diesem Prozess gehören zu den Ursachen für den Absturz in der Tabelle. Lars Ricken, der im vergangenen Sommer von Watzke in der Geschäftsführung die Verantwortung für den Sport übernommen hat, agiert erschreckend glücklos.Den jungen Assistenztrainer Nuri Sahin nach dem Rückzug von Edin Terzic zum Chefcoach zu befördern, muss rückblickend als Fehler betrachtet werden. Genau wie die über Monate aufrechterhaltene Behauptung, dass Impulse von außerhalb nicht nötig seien: „Wir sollten dagegenhalten, wenn die Leute sagen: Der BVB siecht in seinem eigenen Saft!“, hatte Watzke noch vor ein paar Wochen auf der Mitgliederversammlung gerufen. Dieser Gedanke sei „Bullshit“. Diese Woche verkündete Ricken bei der Vorstellung von Niko Kovac: „Wir brauchten den Input eines erfahrenen Trainers von außen.“„Herausforderung für Lars“Auch die Zusammensetzung des Kaders hat sich längst als unzureichend entpuppt; es fehlen Persönlichkeiten, die nicht nur in einem gut funktionierenden Umfeld glänzen können, sondern auch Verantwortung übernehmen, wenn es weniger gut läuft. Rickens Annahme, die seit langer Zeit zerstrittenen Mislintat und Kehl könnten zusammenarbeiten, ohne das Betriebsklima zu vergiften, stellte sich als Trugschluss heraus. Und dass Matthias Sammer mit seinen intimen Kenntnissen, die er als Berater der Geschäftsführung hat, TV-Experte bei Amazon sein darf, ist ebenfalls höchst unglücklich.Musste gehen: Sebastian Kehls Widersacher Sven MislintatdpaDie Lösung dieser Unwuchten bezeichnete Watzke während der vergangenen Woche auf dem Sportbusinesskongress Spobis als „Herausforderung für Lars“, der Sportgeschäftsführer habe „den Hut auf, er muss dafür sorgen, dass alle in die gleiche Richtung denken“. Inzwischen ist Mislintat weg, und Sammer lässt seine Tätigkeit am kommenden Dienstag, wenn der BVB in den Champions-League-Play-offs bei Sporting Lissabon spielt (21.00 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Champions League und bei Prime Video), „aus privaten Gründen“ ruhen.Damit kommt er dem dringenden Wunsch der Dortmunder Klubführung nach, womöglich auch einem Dekret. Dauerhafte Lösungen fehlen aber weiterhin genau wie eine Instanz, die Souveränität und Zuversicht ausstrahlt.Ricken wirkt unsouverän, und Kehl wird nicht nur von Watzke sehr kritisch gesehen. Vom 1. Januar bis zum 3. Februar waren Spielerwechsel möglich, erst am letzten Tag dieser Phase konnten die Dortmunder zwei recht teure Leihgeschäfte für den Rest der Saison bekannt geben: Der Linksverteidiger Daniel Svensson kam vom FC Nordsjaelland, außerdem wurde Carney Chukwuemeka vom FC Chelsea geliehen, jeweils mit Kaufoption.Sorgenfalten bei den BVB-Bossen: Hans-Joachim Watzke, Lars Ricken und Matthias Sammer (von links)FiroSvensson durfte am Samstag ein paar Minuten spielen, Chukwuemeka fehlte, weil er im Training einen Schlag auf ein Knie bekommen hatte. Dass diese beiden jungen Profis den labilen Charakter dieser Mannschaft entscheidend ändern, ist kaum zu erwarten. Ein Ersatz für den verkauften Donyell Malen wurde nicht unter Vertrag genommen.Erste Schritte einer NeuausrichtungWohl auch vor dem Hintergrund dieses Eindrucks hat Watzke in der vergangenen Woche verkündet, dass der BVB mit Blick auf seine Geschäftszahlen vorerst nicht auf die Einnahmen aus der Champions League angewiesen sei. „Das hält der BVB auch zwei Jahre aus“, sagte er, „verglichen mit dem, was der BVB schon alles ausgehalten hat, ist das wirtschaftlich nicht vernachlässigenswert, das wäre zu viel gesagt, aber: Dann macht der BVB ein oder zwei Transfers, und alles ist wieder im Lot. Ganz einfach.“Ein paar Tage vorher war Watzke „als Privatmann“ beim CDU-Parteitag, wo er auf der Bühne in einer vom Generalsekretär Carsten Linnemann moderierten Talkrunde den umstrittenen Umgang seines alten Freundes Friedrich Merz mit der AfD verteidigte. Beim Deutschen Fußball-Bund, bei der Europäischen Fußball-Union UEFA, wenn TV-Gelder akquiriert und verteilt werden, dort, wo die Macht sitzt, war der Sauerländer zuletzt eindeutig erfolgreicher als dort, wo es nach Schweiß und Erde riecht.Sammers vorübergehender Rückzug von der Fernsehbühne und die Trennung von Mislintat sind wohl nur erste Schritte auf dem Weg zu einer Neuausrichtung. Denn es ist kaum vorstellbar, dass Watzke sich wirklich zurückzieht und Ricken gemeinsam mit Kehl in der Verantwortung für den Sport eine neue Erfolgsära einleiten. Dazu ist das Duo schon zu beschädigt. Wenn ihnen keine überraschende Entwicklung gelingt, dann taugen die beiden nicht dauerhaft für die Rolle der Hauptrepräsentanten eines derart großen Fußballklubs, in dem sie zugleich konstruktiv nach innen wirken und die richtigen Entscheidungen für den Sport treffen müssen.Es gibt Kräfte im Klub, die den Wunsch hinterlegt haben, dass Watzke vielleicht doch länger in der Geschäftsführung bleibt, sich nicht zum Jahresende zurückzieht. Wer weiß, wie gerne der Patron Verantwortung übernimmt und Macht ausübt, der kann sich gut vorstellen, dass es so kommt. In jedem Fall wird Borussia Dortmund gerade in einem Prozess zermürbt, der vielen Unternehmen Probleme bereitet: Es gelingt nach Jahren voller Erfolge unter einem sehr starken Chef nicht, geeignete jüngere Leute für die entscheidenden Positionen zu finden.Der BVB, der mit dem langjährigen Sportdirektor Michael Zorc und Hans-Joachim Watzke zum zweitgrößten und zweiterfolgreichsten Fußballunternehmen Deutschlands aufstieg, bemüht sich um eine Fortsetzung. Es gelingt bislang nicht, weil Persönlichkeiten fehlen, die den Herausforderungen gewachsen sind.Zur Erklärung erzählt Watzke ganz gerne, dass es solche Probleme beim FC Bayern auch gab, als dort beispielsweise Oliver Kahn und Hasan Salihamidzic scheiterten. Aber in den Münchner Gremien arbeiteten Männer mit viel Fachkompetenz an der Bewältigung der Neuausrichtung mit. Leute wie Uli Hoeneß, Karl-Heinz Rummenigge, Herbert Hainer oder Jan-Christian Dreesen.Beim BVB hängt fast alles an Watzke, der sich damit rühmen kann, den Klub sehr groß gemacht zu haben. Und der fürchten muss, irgendwann auch für einen Schrumpfungsprozess verantwortlich gemacht zu werden.
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