
Eigentlich ließe sich der kleine verbale Irrweg vom Samstagnachmittag leicht als typischer Niko-Kovac-Fauxpas übergehen, schließlich lag der Trainer von Borussia Dortmund, der am Mittwochabend (18.45 Uhr im F.A.Z.-Liveticker zur Champions League und bei DAZN) gegen Sporting Lissabon um den Einzug ins Achtelfinale der Champions League kämpft, schon in anderen Fällen nicht ganz richtig mit seinen Überlegungen. Bei Thomas Müller zum Beispiel, den er beim FC Bayern aussortieren wollte.
Oder in Wolfsburg, wo Kovac an Omar Marmoush zweifelte. Am Samstag nun hat der kroatische Trainer vor der Partie seiner Dortmunder in Bochum bei „Sky“ mit einer Aussage über seinen heutigen Spieler Julian Brandt für Verblüffung gesorgt: „Wir sind uns alle, glaube ich, einig, dass Jule neben Wirtz und Musiala in diese Range dazugehört.“
Fachleute, die das genauso denken, dürften eher selten sein, wobei: Erstaunlicherweise zog bereits Nuri Sahin diese Parallele. „Jule hat heute wieder einmal gezeigt, dass er für uns absolut unersetzlich ist“, sagte Kovacs Vorgänger nach einem Sieg in Wolfsburg kurz vor Weihnachten. „Für mich ist Jule in der Bundesliga auf dieser Position unter den Top 3 – neben den anderen beiden Experten.“ Gemeint waren: Wirtz und Musiala.
Damals, an jenem kalten Dezemberabend, hatte Brandt tatsächlich beeindruckend gespielt, der BVB gewann 3:1, Brandt schoss ein und lieferte eine Torvorlage. Der 28 Jahre alte Offensivspieler hatte gegrätscht, gekämpft und geackert, war ein echter Anführer. Es war ein Auftritt entgegen des Klischees, denn eigentlich steht Brandt seit Jahren unter dem Verdacht, zu glänzen, wenn es läuft.
Und immer dann abzubauen, wenn Widerstandskraft gefragt ist, so wie in den Wochen vor der Wolfsburg-Partie, als wieder einmal eine Großkrise drohte, die mit Brandt als entschlossenem Anführer abgewendet wurde. Die Erzählung vom Schönspieler greift also zu kurz, die Wahrheit über den Fußballprofi Julian Brand ist komplexer.
Das falsche Umfeld?
Denn der in Bremen geborene Offensivspieler ist eine facettenreiche Persönlichkeit, ein Spieler, der nicht einfach sein Ding durchzieht. Ein unglaublich talentierter Fußballer, was wohl zu den Vergleichen mit Wirtz und Musiala verführt. Aber er ist auch ein ewiges Versprechen und ein sensibler Mensch, was ungünstig ist, weil er in einem Klub spielt, wo sensible Menschen nicht unbedingt das beste Leistungsumfeld finden.
Als er vor dem Champions-League-Finale 2024 nach dem Unterschied zu seinem vorigen Klub Bayer Leverkusen gefragt wurde, sagte er: „Dieser Kontrast ist schon sehr krass. Ich glaube, dass ich hier sehr viel gelernt und erfahren habe. Ich hatte auch mal eine Zeit hier, in der es gar nicht lief. Jetzt bin ich ein viel gestandenerer Spieler.“ Er wurde in den Mannschaftsrat befördert, darf manchmal die Kapitänsbinde tragen.

Zu einem kühlen Profi, an dem alles abperlt, hat ihn dieser Reifeprozess aber nicht werden lassen. So hat er sich die Trennung von Nuri Sahin sehr zu Herzen genommen. „Wir schämen uns dafür, dass wir den Verein in eine Situation gebracht haben, Nuri Sahin zu entlassen“, hat Brandt im Januar gesagt. „Ich persönlich hätte supergerne mit ihm weitergearbeitet.“
Der Sport-Geschäftsführer Lars Ricken berichtete von emotionalen Szenen, nachdem er die Mannschaft im Januar unmittelbar nach der Niederlage in Bologna über die soeben vollzogene Entlassung Sahins in Kenntnis gesetzt hatte, er habe „die eine oder andere Träne“ gesehen. Geweint hat dem Vernehmen nach Julian Brandt.
Acht Trainerwechsel beim BVB seit 2019
Man muss vorsichtig sein mit Einzelaussagen aus einem Unternehmen mit mehr als 600 Mitarbeitern, aber aus dem Inneren von Borussia Dortmund ist auffallend oft zu hören, dass die Alltagsatmosphäre besser sein könnte. Inwieweit das auch auf die Mannschaft zutrifft, ist schwer zu sagen, aber in Krisenmomenten war immer wieder sogar von außen sichtbar, wie unter den Spielern gestritten wurde. Und Konflikte im unmittelbaren Umfeld wie die verhärtete Front zwischen dem mittlerweile entlassenen Sven Mislintat und Sebastian Kehl ließen sich auch kaum ausblenden.
Vielleicht spielt Brandt beim falschen Klub, in dem seit seinem Wechsel aus Leverkusen eigentlich noch keine vollständige Saison ohne ernstere Krisenphase zu Ende ging. Acht Trainerwechsel hat er seit seiner Ankunft beim BVB 2019 miterlebt. Dieses Pech mit der Wahl des Arbeitgebers zählt zu den wichtigsten Unterschieden gegenüber Wirtz und Musiala, aber es gibt noch weitere.
Die Bedeutung des Moments
Brandt ist ein Offensivspieler alter Schule, technisch stark, ein Spieler voller Ideen mit brillantem Gespür für Räume, der aber nicht immer entschlossen mitverteidigt, wenn Gegner angreifen. Und er war in den vergangenen Jahren für erschreckend viele Ballverluste verantwortlich, die zu gegnerischen Chancen oder gar Toren führten.
Das ist besser geworden, war aber immer eine Schwäche, die die Jungstars aus der Nationalmannschaft nie hatten. Wenn der Name eines beinahe 30 Jahre alten Fußballprofis immer noch regelmäßig in Verbindung mit dem Begriff „Talent“ auftaucht, ist etwas schiefgelaufen.
Aber Brandt erweckt auch als gereifter Nationalspieler irgendwie den Eindruck, als sei er nicht vollständig fokussiert. Als lasse er seine Gedanken schweifen, träume ein bisschen. Er darf Ecken und Freistöße schlagen, macht das im Training auch immer wieder brillant, aber in den Spielen führte er Standardsituationen viel zu oft schludrig aus, nicht mit der erforderlichen Konzentration und Wertschätzung für die Bedeutung des Moments.
Besonders sichtbar war das beim 1:2 gegen Stuttgart vor zehn Tagen, als sein Freistoß tief in der Nachspielzeit die letzte Chance auf den Ausgleich bot. Die Südtribüne hoffte und fieberte, im Strafraum lauerten die Kopfballspieler, doch Brandt schlug den Ball absurd weit am Tor vorbei, irgendwo ins Fangnetz vor dem Publikum.
Das passte zum Bild vom empfindsamen Spieler, der starke Gefühle nicht so gut in konstruktive Energien umsetzen kann wie manche Kollegen. Das ist sehr menschlich, im Fußball aber manchmal eben eine Schwäche – die Florian Wirtz und Jamal Musiala nicht haben.