
Julian Brandt kann aufgrund einer Verletzung nicht gegen Union Berlin spielen. Nach dem BVB-Triumph wird er plötzlich als Verlierer gewertet.
Dortmund – Mit dem 6:0-Kantersieg über Union Berlin hat Borussia Dortmund ein erstes echtes Ausrufezeichen unter Neu-Trainer Niko Kovač gesetzt. Es wäre aber nicht der BVB der Saison 2024/25, wenn nicht selbst nach einer solchen Gala das Haar in der Suppe gesucht würde.
Serviert wird sie Julian Brandt. Der Nationalspieler verpasste das Heimspiel gegen die Köpenicker kurzfristig mit einer Muskelverhärtung. In Abwesenheit von Brandt legten die Kollegen auf den ersten Blick ein offensives Feuerwerk hin. Für viele Beobachter ist damit klar: Brandt ist der große Verlierer des ersten Bundesliga-Siegs von Kovač beim BVB.
Dass Dortmund nach eher zaghaftem Beginn durch ein Eigentor in Führung ging und der deutliche Sieg erst in der Schlussphase zustande kam, als Union bemerkenswerte Auflösungserscheinungen zeigte, wird bei der Bewertung geflissentlich übersehen. Ebenso der Umstand, dass Giovanni Reyna, der Ersatz für Brandt in der Startelf, selbst keine großen Akzente setzen konnte.
Trotzdem läuft die heiße Diskussion über die Stellung von Brandt beim BVB.
BVB-Trainer Niko Kovač hat seine Stars bisher stets starkgeredet
Ex-Profi Stefan Effenberg etwa erklärte im Sport1-‚Doppelpass‘, es sei ein Spiel gewesen, „das mit Sicherheit nicht gut war für Julian Brandt“. Die Bild-Zeitung warnt, der Mittelfeldmann drohe „zum prominenten Startelf-Opfer“ zu werden – übrigens nicht wegen Reyna, sondern wegen Joker Carney Chukwuemeka, der einen gelungenen 20-Minuten-Auftritt hinlegte. Daraus leitet das Boulevardblatt ab, die Leihgabe vom FC Chelsea solle beim BVB „jetzt die BVB-Saison retten“.

Dass Brandt binnen 90 Minuten von der unumstößlichen Stammkraft zum Herausforderer aus der zweiten Reihe mutiert ist, steht nicht ernsthaft zu erwarten. Kovač hatte nur einen Tag vor dem Spiel großes Lob für den Regisseur übrig, dem er für die ersten gemeinsamen Wochen auch nach der Gala gegen Union ein gutes Zeugnis ausstellte. „Julian hat in den letzten Spielen auch sehr viel Druck vorne gemacht, sehr viel Laufleistung, mit dem Ball, gegen den Ball. Der Julian ist schon ein sehr wichtiger Spieler für uns“, erklärte Kovač beim TV-Sender Sky.
Wer den Cheftrainer in den ersten Wochen beim BVB beobachtet hat, wird nicht um die Feststellung herumkommen, dass eine plötzliche Verbannung von Brandt in die zweite Reihe völlig aus der Reihe fallen würde. Kovač hat bisher noch jede Chance ergriffen, seine Profis starkzureden und ihnen Vertrauen auszusprechen. Dafür hat der Kroate sogar die Kritik in Kauf genommen, er betreibe Schönrederei.
Julian Brandt gab zu, wie sehr ihn die BVB-Krise belastet
Insofern wäre schon harter Tobak, Brandt nach einer verpassten Partie fallen zu lassen. Zumal der 28-Jährige erst unter der vergangenen Woche seltene Einblicke in sein Seelenleben gab, offen erklärte, wie sehr ihn die anhaltende Krisensituation beim BVB beschäftigt.
BVB-Reporter Oliver Müller spekuliert im Sport1-Podcast ‚Die Dortmund-Woche‘ vor diesem Hintergrund gar darüber, dass Brandt womöglich keine Muskelverhärtung erlitten habe. „Vielleicht war es auch eine bewusste Maßnahme von Kovač. Ich glaube, dass Julian Brandt sich in ein Loch reingespielt hat. Es schien so, als würde er da nicht mehr rauskommen. Vielleicht war dieser Reset-Knopf der einzige Ausweg. Clever wäre es von Kovač.“
Eine Bestätigung für diese brisante Idee wird es kaum geben können. Es drängt sich allerdings die Frage auf, warum der BVB eine solche Maßnahme erst am Spieltag entwerfen sollte, nachdem Kovač in einer Pressekonferenz erneut lobende Worte zu Brandt verloren hatte. Unter Hinweis auf die Belastungssteuerung hätte Brandt ohne jede Geheimniskrämerei auf der Bank Platz nehmen können, ohne dass es Anlass für spannende Theorien gegeben hätte.
BVB-Kapitän Emre Can hat sich aus der Krise gearbeitet
Dass sie sich um Brandt drehen, ist indes bei der aktuellen Gemengelage kein großes Wunder. Denn der dienstälteste BVB-Profi hat ungewollt den Staffelstab des Sündenbocks in Dortmund von Emre Can übernommen. Der Kapitän war über Monate die große Reizfigur bei Fans und Medienvertretern, ist aber seit Wochen als Innenverteidiger neben Nico Schlotterbeck gesetzt und zeigt starke Leistungen.
Sich in der aktuellen Situation an Can abzuarbeiten, wäre absurd. Also wird sprichwörtlich die nächste Sau durchs Dorf getrieben.
Brandt ist dabei ein leichtes Opfer, weil er geradezu sinnbildlich für die Diskrepanz zwischen theoretischer Qualität und tatsächlicher Leistung beim BVB steht. Den Vorwurf, aus seinem herausragenden Talent zu wenig herauszuholen, wird der 48-fache Nationalspieler mutmaßlich bis zum Ende seiner Profikarriere nicht mehr abschütteln können.
Damit wurde Brandt in den letzten Wochen immer stärker zum Gesicht der BVB-Krise, insbesondere nach dem Aus von Trainer Nuri Şahin, der zuvor als der naheliegende Blitzableiter neben Can am meisten Kritik und auch Häme abbekommen hatte.
BVB-Star Brandt hat einen fairen Umgang verdient
Aus dieser Situation kann sich Brandt nur mit guten Leistungen befreien, wie es Can gelungen ist. Der Vizekapitän hat dabei aber gewiss einen fairen Umgang verdient. Ob Spekulationen über seinen mentalen Zustand und vorgeschobene Verletzungen dazu gehören, sei dahingestellt.
Fakt ist: Neben Brandt stand auch Jamie Gittens am Samstagabend nicht in der Startaufstellung. Während Brandt-Ersatz Reyna allenfalls ein ordentliches Spiel machte, konnte Gittens-Ersatz Maximilian Beier mit zwei Scorerpunkten und einem beherzten Auftritt auf sich aufmerksam machen. Die Idee, Gittens als Verlierer des Tages darzustellen, der sich plötzlich hinten anstellen muss, wäre jedoch abwegig.
Für Brandt gelten andere Maßstäbe – weil es bei einem großen Verein wie Borussia Dortmund immer einen Sündenbock braucht?