
Das jetzt auch noch. Borussia Dortmund hat sich endgültig mit dem Big-City-Virus infiziert. Der Bundesliga-Gigant aus dem Ruhrgebiet ist gelähmt und zeigt Verhaltensmuster, die den Hauptstadtklub Hertha BSC aus dem modernen Fußball führten. Heilung ist nicht in Sicht.
Da lagen sie nun vor dem Tor und da standen sie nun im Tor, hinter ihnen sangen und jubelten die Fans und vor ihnen gruppierten sich die Fotografen. Es war ein Ereignis, das festgehalten werden musste. Der Aufstieg in die Fußball-Bundesliga hatte sich allein für dieses Spiel für die Geschichtsbücher am 14. Januar 2025 gelohnt. Die Profis von Holstein Kiel hatten jeden Grund, so richtig glücklich zu sein. Mit 4:2 (3:0) hatten sie gerade Borussia Dortmund aus dem Stadion gefegt.
Die Spieler von Kiel hatten sich in den letzten Minuten nach einer Roten Karte für Lewis Holtby gegen den unbeholfen anrennenden BVB nicht nur erfolgreich gegen den Ausgleich gestemmt, nein sie hatten darüber hinaus noch ein wunderbares Außenseitertor geschossen. Noch in 50 Jahren werden sich die Menschen in Kiel an den Moment erinnern, als Fiete Arp an diesem kalten Dienstagabend im Holstein-Stadion zum 4:2 ins leere Tor von Borussia Dortmund traf. Es war nichts anderes als ein Jahrhunderttor, eines, das auch kurzfristig zumindest für die nächsten Wochen sogar den Klassenerhalt in der Bundesliga möglich erscheinen lässt.
Wie Arps später Stich ins Dortmunder Herz in vier Monaten beim BVB gewertet wird, ist hingegen noch lange nicht absehbar. Momentan deutet jedoch vieles darauf hin, dass die Katastrophe in Kiel, denn nichts anderes war diese Pleite beim Aufsteiger, als Symbol für den Niedergang eines aus der Zeit fallenden Giganten stehen wird. Nach der schlechtesten Hinrunde seit zehn Jahren hechelt der BVB der wirtschaftlich so wichtigen Qualifikation für die Königsklasse mindestens fünf, vielleicht sogar acht Punkte hinterher. Auch eine Qualifikation für die Europa oder Conference League erscheint momentan außer Reichweite. Wieder einmal müssen die großen Linien bemüht werden, um zu verstehen, auf welchem fatalen Kurs der Finalteilnehmer der letztjährigen Champions League sich befindet. Kurzfristig kann es bereits an diesem Spieltag noch in die zweite Hälfte der Tabelle gehen, langfristig sogar noch tiefer. Denn die Diagnose ist ein Schock für alle.
Zwischen Manchester und Berlin
Borussia Dortmund, der ehemals zweite Leuchtturm der Bundesliga, leidet an dem Manchester-United-Syndrom eines abstürzenden Top-Klubs. Er nimmt sich immer sehr wichtig und denkt, dass nur, weil früher alles in Ordnung war, auch die Zukunft golden erscheinen wird. Das lähmende Gift der Erinnerung macht den Klub handlungsunfähig. Er bleibt immer dort, wo er schon ist. Er agiert mit den immer gleichen Methoden und erzählt die immer gleichen Geschichten. Bis sich Beobachter gelangweilt abdrehen, bis die Substanz immer schlechter wird und kaum noch Möglichkeiten bleiben, die Richtung zu ändern.
Trainer kommen und Trainer gehen. Unter den Bedingungen des Familien-Unternehmers Hans-Joachim Watzke aus dem Sauerland. Nach außen sind sie alle eins, im Inneren jedoch zutiefst uneinig. Vereinsvereiner wie Edin Terzić werden ohne große Not zum Rücktritt gedrängt, weil sie nicht so schönen Fußball spielen lassen. Präsidenten sollen auf Mitgliederversammlungen instrumentalisiert werden. Rüstungsunternehmen treten als Sponsor auf, während die Verteidigung auf dem Platz zusammenbricht, wie die “Süddeutsche Zeitung” vor einigen Monaten bemerkte.
Neben dem Manchester-United-Syndrom hat Borussia Dortmund sich jedoch noch mit dem “Big-City-Virus” infiziert. Noch gefährlicher! Dieser riss vor weit über fünf Jahren Hertha BSC in den Abgrund. Rückblick: Der durch Lars Windhorst kurzfristig zu Geld gekommene Klub hatte sich im Sommer 2019 von Trainer Pal Dardai getrennt. Der Dardai-Ball hatte dem Klub in den Jahren zuvor zwar Stabilität gebracht, doch es sollte mehr sein. Als alle mit einem großen Namen rechneten, zauberte der da bereits umstrittene Sportvorstand Michael Preetz den vereinseigenen Übungsleiter Ante Covic aus dem Hut. Das Experiment scheiterte. Der Verein verlor in den fatalen Wochen unter Trainer Jürgen Klinsmann endgültig die Kontrolle. Externe Kräfte entwickelten eine Wucht, die alles zerstörte, was der Klub aufgebaut hatte. Bald ging auch Preetz, bald ging auch der langjährige Präsident Werner Gegenbauer.
Dieser Tage spielt der Hauptstadtklub in der zweiten Liga, kämpft weiter mit finanziellen Problemen, hat jedoch etwas geschaffen, was größer ist als die 90 Minuten auf dem Platz. Sportlicher Erfolg soll weiter her, die Rückkehr in die erste Liga auch, doch nicht mehr zu jedem Preis. Doch diese Entkopplung vom modernen Fußball, die unter dem vor genau einem Jahr verstorben Kay Bernstein zum “Berliner Weg” wurde, ist schmerzhaft und macht aus einem internationalen Leuchtturm einen Klub, der kaum mehr über Stadtgrenzen strahlt.
Andere Klubs sind längst attraktiver
So verlockend also der Hertha-Absturz für das Wohlbefinden der Fangemeinschaft auch der Dortmunder ist, so kann sich der Klub diese Abwesenheit von Ambitionen kaum leisten. Es gibt keinen kontrollierten Absturz im Fußball. Alles drängt nach oben und was sich dort nicht hält, fällt brutal.
Problematisch wird es daher nun, wenn die verzweifelten Erklärungsversuche der Borussia wieder nur in Stillstand münden und mit den ewig gleichen Forderungen nach “Konsequenzen” für diese mit allerhand Adjektiven umschriebenen Katastrophen garniert werden und diese allesamt ohne Folgen bleiben. Denn Stillstand ist der unsichtbare Begleiter des Rückschritts. In diesem Konstrukt ohne Konsequenzen ist mal der eine sauer und mal der andere. Es ist für Außenstehende kaum mehr zu durchschauen, worauf sie gerade sauer sind. Meist sind es Niederlagen. Sie stärken sich dabei so lange den Rücken, bis nichts mehr zu stärken ist. Bis der nächste Umbruch kommt, der den Kader wieder ein wenig schlechter macht.
Aus Jadon Sancho wird dann Donyell Malen, aus Jude Bellingham wird Felix Nmecha, aus Erling Haaland erst Sebastien Haller, dann Niclas Füllkrug und dann Serhou Guirassy. Aus Mats Hummels wird Waldemar Anton und aus dem ewigen Marco Reus wird der ewige Julian Brandt. Nichts wird besser. Alles wird egaler – und andere Klubs werden begehrter. Weil sie die attraktiveren Trainer haben, weil sie ein besseres Scouting haben, weil sie eine bessere Geschichte erzählen und die Spieler sich im Durchlauferhitzer Bundesliga dort besser für ihre Karriere aufladen können. Es darf bezweifelt werden, ob Dortmund im aktuellen Zustand noch einmal ein Juwel wie Haaland erbeuten könnte.
Kehl, kaum verlängert und schon wieder angezählt
Das ist ein Problem für den BVB, der von der Entwicklung dieser Stars lebt und die großen Transfers braucht, um den Kader zu finanzieren. Oft erzählt. Und momentan im Hintergrund. Denn der Klub hat ganz akute Probleme. Er muss aktuell entscheiden, wie er vor dem Spiel gegen Eintracht Frankfurt am Freitag (20:30 Uhr/DAZN und im Liveticker auf ntv.de) reagieren soll. Der Trainer bleibt. So viel ist klar. Er bekommt mindestens noch ein Endspiel in diesen Tagen, in denen sich für den BVB Endspiel an Endspiel reiht. Jede Partie könnte das Ende ihrer Ambitionen sein. In Europa, wo die direkte Qualifikation für das Achtelfinale nicht mehr sicher ist, und in der Bundesliga, wo jede weitere Niederlage die Aufgabe unlösbarer macht.
Sahin, sagte Sportvorstand Lars Ricken in Kiel, habe die Mannschaft “vor dem Spiel nicht nur taktisch, sondern auch emotional hervorragend eingestellt”, berichtete jedoch auch davon, dass er beim Team bereits vor der Partie fehlende Überzeugung bemerkt habe. “Es liegt nicht am Trainer, wir Spieler sind dafür verantwortlich”, sagte Kapitän Emre Can. Sahin und Co. hätten immer einen Matchplan, aber “wir kriegen es nicht hin. Wir können so nicht Fußball spielen”, sagte er: “Das hat was mit Ehre zu tun. Bei allem Respekt vor Kiel.”
Bezeichnend dabei ist die Vertragsverlängerung mit Sportdirektor Sebastian Kehl, der große Teile des Kaders zu verantworten hat. Schon lange wird rund um den Verein über die Arbeit des ehemaligen Kapitäns getuschelt. Zufrieden ist kaum jemand, manche äußern ihr Mitleid für den Mann im Haifischbecken Dortmund. Als sich nun dem Klub jedoch die Chance bot, Kehls Vertrag im kommenden Sommer auslaufen zu lassen, bekam er einen neuen angeboten. Was nur eine Verlängerung der Tuschelei darstellt, denn schon berichten jene, die um den Verein herumschwirren, von der Möglichkeit einer Entlassung im Sommer.
Der letzte glückliche Moment liegt lange zurück
In diesem Winter aber muss Kehl erst einmal neue Spieler ranschaffen. Der auf Kante genähte Kader, der nach dem Abgang des Niederländers Donyell Malen weiter an Substanz verloren hat, soll mal wieder kurzfristig auf Erfolg getrimmt werden. Der Blick, so ist überall zu lesen, richtet sich dabei wieder einmal auf die Ersatzbank von Chelsea. Dort tummeln sich die Spieler, nach denen der uninspirierte BVB greift. Sie sind jung, teuer und ohne Spielpraxis. Chelseas Plan dabei: Im Westfalenstadion sollen diese ihren Marktwerten aufmöbeln, damit sie danach für gutes Geld verkauft werden können. Wenn es nicht klappt, gibt es noch genug andere Spieler. Für den BVB müssen die Transfers jedoch sitzen.
Der Klub hängt an dem Tropf des modernen Fußballs. Der Klub braucht das Geld der internationalen Wettbewerbe, sie brauchen die Anerkennung Europas und der Welt, um ihr System am Laufen zu halten. Denn das “Big-City-Virus” übertrumpft das “Manchester-United-Syndrom”. Das ist ein Problem. Manchester United hält aufgrund der Besonderheiten des englischen Systems den Kopf zumindest finanziell weiter über Wasser.
Als Dortmund das letzte Mal so richtig glücklich war, stürmten die Spieler vor die Kurve, manche rissen die Grenzen nieder und fanden sich auf einmal neben den Ultras wieder. Sie gingen ineinander auf und freuten sich gemeinsam diebisch über den Einzug ins Finale der Champions League. Das war im Mai 2024. Der BVB hatte in Paris gewonnen. Die Spieler standen vor der Tribüne, hinter ihnen sangen die Fans und die Fotografen gruppierten sich, um diese Momente für die Ewigkeit festzuhalten. In Kiel stiegen nun einige Fans über den Zaun und redeten auf die Spieler ein. Meist sind das die letzten Zuckungen, bevor alles noch viel schlimmer wird. Fragen Sie nach in Berlin, fragen Sie aber auch nach in Hamburg oder auf Schalke.