
Sie glauben, Ihrem Verein geht es schlecht? Dann schauen Sie doch einmal in die englische Premier League. Dort kündigt sich seit einiger Zeit der Untergang eines Giganten des Weltfußballs an. Seltsame Entscheidungen reihen sich an seltsame Entscheidungen – und Heilung ist nicht in Sicht.
Im vergangenen Herbst, ein paar Monate nach seinem Amtsantritt als Vorstandsvorsitzender von Manchester United, stellte Omar Berrada im Old Trafford das “Projekt 150” vor. Der Name war Ausdruck des großen Traums, zum 150. Geburtstag des Klubs im Jahr 2028 endlich wieder englischer Meister zu werden. Da stellt sich die Frage: Wie läuft das Projekt? Nun – im Januar sagte Ruben Amorim, der erste Cheftrainer des neuen Regimes des Milliardärs und Miteigentümers Sir Jim Ratcliffe: “Wir sind die vielleicht schlechteste Mannschaft in der Geschichte von Manchester United.”
Amorim ruderte schnell ein wenig zurück und das nicht nur, weil United in der Saison 1933/34 nur knapp dem Abstieg in die alte Division 3 Nord entgangen war und in der Ligapyramide Englands nur auf Rang 42 landete. Doch der Portugiese hatte schon den Dezember 2024 mit der Rede von einem möglichen Abstieg beendet. Ein Unglück, das United seit 1974 nicht mehr widerfahren ist. In Amorims Argumentation fanden sich viele Übertreibungen. Doch sie verdeutlichten die gigantische Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit im Old Trafford.


Nach einem 0:1 gegen Manchester City stieg United 1974 ab. Die Fans probierten alles und stürmten den Platz. Sie wollte so einen Abbruch provozieren.
(Foto: IMAGO/Colorsport)
Im vergangenen Februar, nachdem er 1,3 Milliarden Pfund (circa 1,6 Milliarden Euro) für 27,7 Prozent der Anteile an United bezahlt hatte, kündigte Ratcliffe noch vollmundig an, Liverpool oder Manchester City innerhalb von drei Jahren von “ihrem Thron” zu stoßen. Das sind große Worte im englischen Fußball. Sie gehen zurück auf Sir Alex Ferguson. Der stand im September 2002 nach einer Serie von schlechten Resultaten unter Druck. Arsenal hatte in der Saison zuvor die Meisterschaft gewonnen und spazierte wieder an der Tabellenspitze davon. Ferguson wischte die Zweifel fort.
Eigentlich konnte der Absturz nicht weitergehen – eigentlich
Seine größte Herausforderung, sagte er, sei nicht die Gegenwart, sondern das, was in den frühen 1990er-Jahren passiert sei. Seine größte Herausforderung war, “Liverpool von ihrem verdammten Thron zu stoßen” und United zur dominanten Mannschaft in England zu machen. Dem Schotten war das gelungen. In seiner Zeit als Trainer reihte er Trophäe an Trophäe. Er gewann dreizehn Meistertitel, fünf FA-Cups und zwei Trophäen in der Champions League. Die Fans des FC Bayern erinnern sich mit Grauen an das Finale im Jahr 1999.
Richard Jolly gehört zu den renommiertesten Fußball-Autoren Englands. Für “The Independent” berichtet er seit Jahren über die Premier League sowie über Welt- und Europameisterschaften. Für ntv.de schreibt er unregelmäßig über den Fußball auf der Insel.
Nachdem Ferguson 2013 nach 27 Jahren bei United zurückgetreten war, hatte der Klub keine wirkliche Chance mehr auf einen Titel. Die neue und harte Realität unter Sir Jim Ratcliffe: Manchester United muss zuerst Brighton oder Bournemouth vom Thron im Mittelfeld der Tabelle stoßen. An Manchester City oder gar Liverpool ist momentan überhaupt nicht mehr zu denken.
Denn als es so aussah, dass United nicht mehr tiefer sinken kann, sanken die Red Devils immer tiefer. Die letzte Saison beendeten sie auf Platz acht, noch nie seit Einführung der Premier League im Sommer 1992 stand United am Ende einer Saison schlechter und noch nie hatten sie mehr Niederlagen als die 14 in der Saison 2023/2024 kassiert. Beim Blick auf die gigantischen finanziellen Ressourcen war klar, tiefer kann es eigentlich nicht mehr gehen. Ging es für die anderen ja auch nie. Arsenal war seit 1995 nicht schlechter als Platz acht, Liverpool nicht mehr seit ihrem Aufstieg ins Oberhaus im Jahr 1962.
Das portugiesische Wunderkind …
Als United im Oktober 2024 Erik ten Hag rauswarf, waren sie auf Platz 14 abgerutscht. Sie träumten immer noch von einer Platzierung in den Top vier am Ende der Saison. Sie ernannten Amorim zu ihrem Trainer. Sie nannten ihn den aufregendsten jungen Trainer in Europa. Sein Start war der schlechteste Start eines United-Trainers seit 103 Jahren. Allein im Dezember kassierten sie sechs Niederlagen, die meisten in einem Monat für United seit 1930. “Es ist ein bisschen peinlich, Manchester United zu trainieren und so viele Spiele zu verlieren”, sagte Amorim. Von den letzten sechs Heimspielen in der Premier League haben sie fünf Spiele verloren und im sechsten lagen sie gegen die schlechteste Mannschaft der Liga, Southampton, bis zur 81. Minute mit 0:1 zurück. Dann erzielte Amad Diallo einen Hattrick.
Amorim war mit der Empfehlung eines 100-Prozent-Rekords (elf Siege in elf Spielen) in der portugiesischen Liga mit Sporting Lissabon nach England gekommen. Ursprünglich wollte er erst im Sommer 2025 übernehmen. Für United war das keine Option. So kam er während der Saison. Als er Sporting verließ, war der Playoff-Gegner von Borussia Dortmund auch in der Champions League exzellent aufgestellt. Sie hatten gerade Manchester City mit 4:1 besiegt, standen auf Platz zwei, Amorim hatte seinen Ruf als Trainer-Wunderkind untermauert.
… will nur ein System spielen
Da waren die ersten dunklen Wolken längst aufgezogen. Als Liverpool sich auf die Suche nach einem Nachfolger für Jürgen Klopp machte, war der Portugiese in der engeren Auswahl. Doch sein Beharren auf eine Dreierkette nahm ihn aus dem Rennen. Liverpool entschied sich für Arne Slot. Eine bislang solide Wahl. Die Reds stehen souverän an der Spitze der Premier League, sie haben die Tabellenphase der Champions League auf Platz eins abgeschlossen. Es läuft ganz gut an der Anfield Road.


Das Duell der niederländischen Glatzköpfe konnte Slot (r.) gegen ten Hag entscheiden. Einer führt die Tabelle an, der andere musste gehen.
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United verpflichtete einen Trainer, der auf ein 3-4-3 bestand. “Ich muss meine Idee verkaufen, weil ich keine andere habe”, sagte Amorim. Aber bis er im Januar den Dänen Patrick Dorgu für 30 Millionen Euro von US Lecce verpflichten konnte, hatte er im Kader keinen Flügelverteidiger für die Dreierkette. Vielleicht passen nur der Verteidiger Harry Maguire und der derzeit verletzte Mittelfeldspieler Mason Mount überhaupt besser in ein 3-4-3 als in ein anderes System. Die meisten Innenverteidiger haben nicht das Tempo, um die von Amorim gewünschte hohe Verteidigungslinie zu spielen. Das erklärt, warum Uniteds beste Leistungen unter dem Portugiesen dann zu sehen waren, wenn sie, wie gegen Arsenal und Liverpool, tief verteidigen konnten.
United kassiert ständig Einhorn-Tore
Schon unter Ole Gunnar Solskjær war United am stärksten, wenn sie kontern konnten. Doch für einen Verein mit einer langen Tradition von mutigem und unterhaltsamem Angriffsfußball schwächeln sie nun schon lange, wenn sie den Ton angeben müssen. Wie bereits Louis van Gaal und ten Hag so hat auch Amorim besonders gegen die Teams aus dem Mittelfeld seine Probleme, Spiele zu gewinnen. Keiner von ihnen hat auf die Stärken dieser Klubs eine Antwort gefunden.


Der ehemalige Hertha-Spieler Matheus Cunha konnte Onana mit einer direkten Ecke überwinden.
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Der neue Trainer hat überall auf dem Platz Probleme. In der bislang kurzen Amtszeit von Amorim haben beide Torhüter bereits Tore von direkten Ecken kassiert – Altay Bayindir bei der 3:4-Ligapokalpleite in Tottenham im Dezember und Andre Onana nur wenige Tage später beim 0:2 bei den Wolverhampton Wanderers am Boxing Day. Ganz vorn im Sturm bringt es der im Sommer 2023 für 72 Millionen Pfund (circa 84 Millionen Euro) von Atalanta Bergamo verpflichtete Rasmus Hojlund auf gerade einmal zwei Saisontore in der Liga.
Der im vergangenen Sommer für mehr als 40 Millionen Euro vom FC Bologna geholte ehemalige Bayern-Angreifer Joshua Zirkzee wurde von den eigenen Fans laut ausgepfiffen, als er beim 0:2 gegen Newcastle am 30. Dezember bereits nach 33 Minuten ausgewechselt wurde. Eine nahezu beispiellose Demütigung durch die sonst so loyalen Stadionbesucher im Old Trafford. Am vergangenen Wochenende, bei der 0:2-Heimpleite gegen Crystal Palace, entschied sich Amorim gegen beide Spieler und bot stattdessen den Mittelfeldspieler Kobbie Mainoo in der Angriffsspitze auf. Bizarr.
Ex-Bayern-Angreifer trifft nicht, Rashford spielt nicht
Aber die Probleme enden da nicht. Im Mittelfeld fehlt United die Beweglichkeit. Ständig geraten sie dort in Unterzahl, oft werden sie überrannt. Als Amorim im Dezember gegen Newcastle United das langsame Oldie-Duo Casemiro und Christian Eriksen gegen das hochklassige, energiegeladene Trio Sandro Tonali, Bruno Guimares und Joelinton aufbot, war klar, was passieren würde. Und es passierte. Sie wurden überrannt, verloren, Zirkzee wurde ausgewechselt und ausgepfiffen.
Amorim kam zu dem Schluss, dass er Casemiro, einer der am besten verdienenden Spieler bei United, nicht mehr aufbieten kann. Die vergangenen fünf Ligaspiele verbrachte er auf der Bank. Damit ist er immer noch besser dran als Marcus Rashford. Der wurde in gleich 13 aufeinanderfolgenden Pflichtspielen nicht berücksichtigt. In diesem Zeitraum erzielen Hojlund und Zirkzee zusammen genau ein Tor. Am Ende der Wintertransferperiode wurde Rashford nun an Aston Villa ausgeliehen.
Rashford wollte den Klub verlassen. Er hatte außerhalb des Platzes Probleme und auf dem Platz seit 18 Monaten nicht mehr seine Bestform erreicht. In den sieben Wochen, die Rashford vor seiner Leihe von Amorim nicht mehr berücksichtigt worden war, verdiente er mehr als 2 Millionen Pfund (circa 2,5 Millionen Euro) dafür, dass er nicht spielte. Kürzlich sagte Amorim – ohne jedes Taktgefühl -, dass er lieber den 63-jährigen Torwarttrainer Jorge Vital auf die Bank setzen würde, obwohl United viel zu wenig Tore erzielt.
Es war die Fortsetzung eben jener Behandlung, die ten Hag in der vergangenen Saison Jadon Sancho zukommen lassen hatte. Der war im Herbst 2023 vom Niederländer ausgemustert worden. Im Januar 2024 hatte er sich für den Rest der Saison Borussia Dortmund angeschlossen und war dort ein entscheidender Faktor auf dem Weg ins Finale der Champions League.
Bizarre Verhandlungstaktiken
Es ist auch eine perfekte Illustration für die Probleme, die Amorim bei United geerbt hat. Bizarrerweise hatte ten Hag zum Beispiel auch 85 Millionen Pfund (circa 100 Millionen Euro) für Antony bezahlt und ihn damit im Sommer 2022 zum zweitteuersten Einkauf der Klubgeschichte gemacht. In dieser Saison stand der brasilianische Flügelspieler in der Liga nicht einmal in der Startelf. Im Januar wurde er an Real Betis nach Spanien verliehen.


Sir Jim Ratcliffe (l.) sieht nicht glücklich aus. Khaldoon Al Mubarak, der Statthalter der Emirate bei Manchester City, kann es in dieser Saison auch nicht sein. Aber das ist eine andere Geschichte.
(Foto: IMAGO/Visionhaus)
Ten Hag war es gelungen, über 600 Millionen Pfund (rund 720 Millionen Euro) in den Kader zu stecken und ihn schlechter zu hinterlassen. Die fatale Kombination aus hohen Ablösesummen, Superstar-Gehältern und dem sinkenden Ansehen macht viele von ihnen unverkäuflich. Obwohl die Financial-Fair-Play-Regelungen der Liga United mit einem Umsatz von 661 Millionen Pfund (rund 800 Millionen Euro) im vergangenen Geschäftsjahr eigentlich zugutekommen sollten, mussten sie eingestehen, dass sie Gefahr laufen, gegen die Regeln zur Rentabilität und Nachhaltigkeit zu verstoßen. Aus diesem Grund mussten sie Scott McTominay im vergangenen August an die SSC Neapel verkaufen, obwohl ten Hag ihn behalten wollte.
Uniteds neues Regime wollte auf dem Transfermarkt eigentlich ganz groß auftrumpfen. Sie verpflichteten Dan Ashworth von Newcastle United. Ratcliffe kündigte ihn als “einen der besten Sportdirektoren der Welt” an. Nach fünf Monaten feuerten sie ihn. Im letzten Sommer sah alles nach einer Trennung von ten Hag aus. Der Verein sprach mit einer ganzen Reihe potenzieller Trainer – unter anderem mit Thomas Tuchel, aber seltsamerweise nicht mit Amorim. Das Ergebnis? Ten Hag erhielt einen neuen Vertrag und obendrauf 200 Millionen Pfund (circa 240 Millionen Euro) für den Transfermarkt.
Einer wusste es schon vor langer Zeit
Diese mangelhafte Entscheidungsfindung kommt von ganz oben. Ratcliffe scheint die Herausforderungen in seiner Heimat unterschätzt zu haben. Der gebürtige Mancunian ist sehr schnell von einem beliebten Neuzugang zu einem unbeliebten Besitzer geworden – obwohl er Ambitionen hat. Er möchte Old Trafford entweder umbauen oder, so wie er es wohl lieber hätte, ein neues, hochmodernes Stadion bauen. Es soll das “Wembley des Nordens” werden. Der Milliardär, der in Monaco im Steuerexil wohnt, will dafür offenbar an das Geld der Steuerzahler. Old Trafford ist unter der Eigentümerschaft der US-Familie Glazer ohne Investitionen immer brüchiger geworden. Das berüchtigte undichte Dach wurde zu einer Metapher für den Klub. Sir Jim Ratcliffe hat immerhin erkannt, dass Old Trafford zum Symbol des Niedergangs von Manchester United geworden ist.
Aber United hat im vergangenen Finanzjahr auch 113 Millionen Pfund (circa 136 Millionen Euro) Verlust gemacht. Ratcliffe hat Kosten reduziert und die Eintrittspreise auf 66 Pfund (circa 80 Euro) erhöht – und dazu erklärt, ein Besuch bei Fulham solle nicht teurer als einer bei United sein, obwohl Fulham ja momentan wohl die bessere Mannschaft hat. Ratcliffe hat auch etwa 250 Mitarbeiter entlassen, viele davon langjährige. Auch vor Klub-Legende Sir Alex Ferguson machte Ratcliffe nicht halt. Die United-Legende war Klub-Botschafter und hatte dafür 2 Millionen Pfund (circa 2,4 Millionen Euro) im Jahr erhalten.
In Wien dürfte diese Bilanz ein amüsiertes Lächeln hervorrufen. Vor drei Jahren erklärte Ralf Rangnick während seiner weithin erfolglosen Zeit als Interimstrainer, dass United eine “Operation am offenen Herzen” benötige. Diese Einschätzung scheint heute wahrer denn je.