Borussia Dortmund in der Königsklasse: Schwarz-gelbe Schwankungen


Dortmund taz | Das Gefühl der Ambivalenz sitzt mittlerweile beinahe so tief wie das der „Echten Liebe“, die die Anhänger von Borussia Dortmund laut eigener Geschichtsschreibung empfinden. Wie so oft in den vergangenen Wochen, Monaten und Jahren war das Publikum auch am Dienstag hin- und hergerissen. Manche pfiffen, als das 1:1 gegen den OSC Lille beendet war, andere applaudierten.

Zuneigung und Ablehnung hielten sich die Waage: so wie dieses Spiel zerrissen war in zwei unterschiedliche Hälften, so wie der BVB ein Wesen mit zwei Gesichtern ist, die beide an diesem Abend zu sehen waren. „Wir bleiben auf unserem Weg, wir haben nicht verloren“, sagte Sebastian Kehl, der mit diesen Worten eigentlich Zuversicht verbreiten wollte. Allerdings wäre ein neuer Weg vielleicht gar nicht so schlecht. Denn ein echter Fortschritt will einfach nicht gelingen.

Dabei hatte die erste Halbzeit gewirkt wie eine Fortsetzung der Aufschwungphase, die dem Team in der Bundesliga kürzlich zwei Siege in Folge beschert hatte: ein am Ende entfesseltes 6:0 gegen Union Berlin und das von Effizienz und Stabilität geprägte 2:0 beim FC St. Pauli. Nun spielten die Dortmunder auch gegen Lille eine Hälfte auf gehobenem Champions-League-Niveau. Karim Adeyemi schoss ein brillantes Tor (22.) und, noch wichtiger, alle halfen aufmerksam und voller Energie dabei mit, das eigene Tor zu verteidigen.

Gutgläubige Menschen konnten der Annahme verfallen, dass der seit Anfang Februar in Dortmund arbeitende Trainer Niko Kovač eine Art Durchbruch bewirkt haben könnte. „Wir waren griffig, waren in den Zweikämpfen stark, hatten eine gute Ballzirkulation“, sagte Kovač, der konsequent darauf verzichtete, seine Mannschaft wegen des Leistungsabfalls zu kritisieren.

„Wir sind nicht mehr in die Zweikämpfe gekommen, wir hatten nicht mehr die Räume wie in der ersten Hälfte“, sagte der Trainer nüchtern. Auch während des Spiels coachte er wohlwollend, nachdem das Team nach der Pause nur noch mit deutlich reduziertem Energieeinsatz spielte. „Die Intensität hat gefehlt“, sagte Pascal Groß. Kovač blieb demonstrativ ruhig.

Spaziergang von Adeyemi

Am deutlichsten wurde das Problem, als der Ausgleich nach einem fehlerhaften Balleroberungsversuch von Marcel Sabitzer fiel. Ja, der Österreicher hatte sich ungeschickt verhalten, aber in der ersten Halbzeit hätte das Kollektiv den Fauxpas ausgebügelt.

Konkret wäre Adeyemis Unterstützung hilfreich gewesen, weil in seinem Rücken Julian Ryerson plötzlich zwei Gegenspieler hatte und sich zu spät auf den Torschützen Hákon Haraldsson konzentrierte. Inmitten der sich anbahnenden Gefahrenlage war Adeyemi aber nach vorne spaziert, als habe er mit dem Verteidigen nichts mehr zu tun, nachdem ihm ein schönes Tor gelungen war.

So etwas passiert in solch einem bedeutenden Spiel weder einem großen Spieler noch einer großen Mannschaft. Die Verantwortlichen gingen nicht auf die offensichtlichen mentalen Probleme des Teams ein. „Wir hatten viele leichte Ballverluste, haben keine Sicherheit mehr in unser Spiel bekommen, haben wenige fußballerische Lösungen gefunden“, befand Kehl.

Dieser nachsichtige Umgang mit dem Team könnte auf der Überzeugung beruhen, dass öffentliche Kritik verunsicherten Spielern wie Julian Brandt oder Jamie Gittens noch mehr Selbstvertrauen rauben würde. Derzeit wird im Umfeld des Teams auch über eine andere Erklärung spekuliert: einen grundlegenden Mangel an körperlicher Fitness. „Es war am Ende auf gar keinen Fall eine Kraftfrage“, behauptete Nico Schlotterbeck zwar, aber dieses Thema wird bleiben, weil es Indizien physischer Schwächen gibt.

So ist in der Bundesliga nur der VfL Bochum weniger gelaufen. Die in der Regel gut informierten Ruhr Nachrichten wollen erfahren haben, dass Kovač am Fitnesszustand seiner Spieler „verzweifelt“. Insofern wäre es aufschlussreich, den BVB am kommenden Mittwoch im Rückspiel in einer Verlängerung spielen zu sehen, wobei diese Wundertütenmannschaft ebenso gut nach 90 Minuten glanzvoll in Lille gewinnen oder eben sehr deutlich verlieren kann. Kovač wird sich an die schwarz-gelben Schwankungen gewöhnen müssen.



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