
In den sozialen Medien haben die Bundesliga-Interviews von Archie Rhind-Tutt Kultstatus. Der Engländer erklärt, warum sich Spieler und Trainer ihm gegenüber öffnen.
Köln – Interviews scheinen für die Stars der Bundesliga an Spieltagen oftmals ein nötiges Übel zu sein. Hohe Wellen schlagen die sogenannten Field Reporter der TV-Sender eigentlich nur, wenn es zum Streit kommt. Bei Archie Rhind-Tutt ist das anders. Der 32-jährige Londoner lebt seit 2015 in Deutschland, begleitet die Bundesliga für den US-Sender ESPN.
Im Interview mit fussball.news, dem Fußball-Portal von IPPEN.MEDIA, spricht Rhind-Tutt über seinen ‚viralen Moment‘ mit Andrej Kramarić, sein Verhältnis zu Stars wie Xabi Alonso und sein Erlebnis beim Meister-Drama des BVB im Mai 2023.

Archie Rhind-Tutt, Videos von Ihren Interviews erfreuen sich in den sozialen Medien schon länger großer Beliebtheit. Als kürzlich Andrej Kramarić von der TSG Hoffenheim zum Rundumschlag gegen den eigenen Klub ausholte, ging das Video sogar viral. War Ihnen das schon währenddessen klar?
Während des Interviews habe ich mir gedacht: ‚Was er mir da sagt ist unglaublich, das habe ich nicht erwartet.‘ Jeder wusste, dass Hoffenheim in einer schwierigen Situation steckt, trotzdem war ich in dem Moment regelrecht schockiert. Mir war dann auch gar nicht klar, welche Frage ich als Nächstes stellen soll, ich wollte einfach mehr hören.
Besteht Ihre Aufgabe in so einer Situation darin, den Interviewpartner am Reden zu halten?
Die Faustregel ist, dass wir drei Fragen an den Spieler stellen dürfen. Wenn sie nicht mit der Sprache rausrücken, stelle ich mehr Fragen, wenn sie von selbst ins Rollen kommen, dann reduziere ich. Die Ironie an der Sache mit Kramarić ist: Wenn man sich das Interview anschaut, hat er eigentlich keine einzige meiner Fragen beantwortet. Deshalb würde ich auch nicht sagen, dass es eins der Interviews war, mit dem ich selbst ungeheuer zufrieden bin. Aber da gibt es nicht immer eine Korrelation mit dem, was gut ankommt.
Sie sind bestimmt nicht mit dem Gedanken zum Spiel zwischen Hoffenheim und Bayern gefahren, dass Sie so an so einer Story beteiligt sein würden?
Es war auf jeden Fall eine interessante Erfahrung. Das ist einer der Gründe, warum ich meinen Job so gerne mag: An den Tagen, an denen man gar nicht damit rechnet, muss man besonders auf der Hut sein, weil sich so etwas eine Bahn brechen kann.
Bei Ihren Interviews ist auffällig, dass sich Spieler, Trainer und Manager sehr offen präsentieren. Haben Sie selbst eine Erklärung dafür?
Ich habe meine eigene Art, die Sache anzugehen. Grundsätzlich musst Du jeden Interviewpartner für sich betrachten. Zum Beispiel am Anfang der Saison, als der FC Bayern mit Vincent Kompany und Borussia Dortmund mit Nuri Şahin neue Trainer hatten – das bedeutet für mich auch den Beginn einer neuen Beziehung mit diesen Leuten.
Bereiten Sie sich besonders auf die erste Begegnung mit jemandem wie Vincent Kompany vor?
Ich versuche, die ersten Pressekonferenzen zu schauen. Bei Kompany habe ich gemerkt, dass er manche Fragen mit einem Lachen abmoderiert, im Sinne von: Netter Versuch. Wichtiger ist aber, glaube ich, dass ich versuche, Fragen zu stellen, über die ich als Fußballfan selbst nachdenke, weil das immer noch das ist, was ich bin. Mir kommt auch zugute: Ich bin kein Fan von einem Team in der Bundesliga, mich interessiert die Liga insgesamt.
In der Premier League schlägt Ihr Herz für den FC Fulham.
Das stimmt. Aber ich habe auch schon bei Spielen vom FC Chelsea gearbeitet, der ein großer Rivale von Fulham ist. Da habe ich gemerkt, mein Gehirn kann diesen Schalter umlegen, wenn es um den Beruf geht. Wenn es um die Bundesliga geht, kann ich aber das Fangehirn nutzen.
„In Harry Kane steckt immer noch ein Kind“
Das Fangehirn?
Ja, genau. Ich würde sagen, die meisten Spieler oder Trainer, die denken genauso. Letzte Woche habe ich Harry Kane gefragt, ob er seine Tore zählt. Bei seiner Reaktion habe ich gemerkt, da steckt immer noch ein Kind in ihm, das war schön zu sehen. Für mich geht es immer darum, Dinge auszuprobieren und deshalb bin ich meinen Bossen bei ESPN dankbar, dass sie mir ein weißes Blatt Papier hinlegen und die Freiheit geben, die Dinge anzugehen, wie ich es mag.
Was dabei herauskommt, wirkt oft eher wie ein Gespräch denn ein klassisches Interview als Frage-Antwort-Spiel.
Ich mache mir vorher ein paar Notizen und habe Ideen, aber ich versuche so gut es geht, ein Gespräch aufkommen zu lassen. Mit meiner ersten Frage geht es darum, herauszufinden, in welcher Laune der Interviewpartner ist. Da will ich nicht voreingenommen sein, man sollte jeden Gesprächspartner als individuelle Person behandeln, die wir nun mal alle sind. Nach dieser ersten Frage spielt sich in meinem Kopf sozusagen ein Flussdiagramm ab: Gehen wir in diese Richtung oder nehmen wir die andere Abzweigung? Gut für mich, dass mich niemand abfragt, was der Spieler eigentlich alles gesagt hat.
Weil Sie sich bereits auf eine weitere Frage konzentrieren?
Manchmal schnappe ich nur einzelne Worte auf, wenn ich schon an die nächste Frage denke, manchmal muss man auch eine Nachfrage stellen. Weiß der Zuschauer, was Julian Nagelsmann mit der ‚Red Zone‘ meint? Es kann spannender sein, das nochmal aufzugreifen, als die nächste Frage zum Spiel zu stellen. Manchmal geschieht auch alles ganz schnell und ich denke an technische Sachen, wie lang darf mein Interview zum Beispiel sein? Wenn wir zu lange machen, lässt der Pressesprecher den Trainer beim nächsten Spiel vielleicht nicht vor mein Mikrofon.
Die Pressesprecher und Trainer kennen Sie inzwischen natürlich auch ganz gut. ESPN schickt sie oft zu Topspielen, neben dem FC Bayern oder dem BVB sind sie seit letzter Saison auch häufig bei Bayer Leverkusen. Wie hat sich die historische Leverkusener Spielzeit für Sie angefühlt?
Je länger der Lauf von Leverkusen gedauert hat, desto klarer wurde uns: Da müssen wir dran sein, weil da etwas sehr Spezielles passiert. Immer wenn wir gedacht haben, jetzt lassen sie nach, haben sie noch einen drauf gesetzt. Das hat sich immer weiter zusammengebraut.
Xabi Alonso bezeichnete sie dann sogar als Glücksbringer für die Werkself.
Xabi Alonso war schon ungefähr ein Jahr im Amt, als ich ihn das erste Mal interviewt habe. Klar, als Fußballfan war er mir viele Jahre bekannt, schon aus seiner Zeit bei Liverpool. Aber trotzdem muss man dann bei null starten und herausfinden, was für eine Persönlichkeit das ist. Betreibe ich mit ihm Smalltalk oder geht es direkt ans Eingemachte?
Was haben Sie herausgefunden?
Je seriöser und professioneller man sich um ihn herum verhält, desto mehr ist er willens, die Fragen zu beantworten. Und ich weiß aus der Erfahrung, dass es nichts bringt, wenn ich ihm vor dem Spiel die Frage nach dem System oder so stelle. Xabi Alonso sagt, das Spiel sei kein Foto, sondern ein Film, bei dem sich die Bilder bewegen. Er will vor dem Spiel nichts verraten.
Und nach dem Spiel?
… ist er durchaus bereit, darüber zu sprechen, wie er Fußball versteht. Man muss bei Trainern immer zwischen den Zeilen lesen, aber wenn man ihm genau zuhört, gibt er eine Menge seines Spielverständnisses preis. Manchmal muss man ihn ein bisschen anstupsen, das gehört aber auch einfach dazu.
Immerhin mussten Sie ihn vergangene Saison nicht nach den Gründen für eine Niederlage fragen …
Stimmt, das war wirklich eine Art Märchen. Mit etwas mehr als einem halben Jahr Abstand wird deutlich, was für eine Sensation das war. Es hat sich alles ineinander gefügt. Mit jedem späten Tor denkst Du, das ist doch der Wahnsinn. Oft war ich schon im Spielertunnel, als sie getroffen haben. Da mit der Presseabteilung von Leverkusen zu stehen, wenn diesen Leuten selbst die Kinnlade herunterfällt, war sehr speziell.
International hat Leverkusen damit sehr an Profil gewonnen. In Deutschland sehen viele Fans die Werkself kritisch.
Ich verstehe, warum manche Traditionalisten etwas gegen Leverkusen haben, das ist Teil der deutschen Fußballkultur. Aber es gibt auch Hardcore-Fans von Leverkusen. Ich lebe in Köln, spiele mit manchen Fans von Bayer selbst Fußball. Zu sehen, wie sich in der letzten Saison ein riesiger Traum für sie erfüllt hat, war einfach etwas Besonderes. Natürlich habe ich auch die journalistische Perspektive und weiß, dass Leverkusen einige Vorteile gegenüber anderen Vereinen hat, die man kritisch sehen kann.
„Xabi Alonso ist einfach ein ziemlich cooler Typ“
Trotzdem war es gut für die Bundesliga, dass Bayern mal nicht den Titel geholt hat?
Definitiv, im Kontext der Dominanz von Bayern München war nicht so wichtig, wofür Leverkusen steht, sondern was sie auf dem Platz machen. Und dann war da eben die Personalie Xabi Alonso …
Was meinen Sie?
Er ist einfach ein ziemlich cooler Typ. Egal, für welchen Klub in der Bundesliga ihr Herz schlägt: Nahezu alle Fans, selbst solche, die den FC Bayern abgrundtief hassen, müssen zugeben, dass Xabi Alonso cool ist. Er hat auch Leverkusen diese Coolness gegeben. Durch Xabi Alonso haben sie dieses Standing, das ihnen vorher gefehlt hat.

Ein Jahr vor Leverkusen hätte auch der BVB die Dominanz der Bayern um ein Haar unterbrochen. Sie waren am 27. Mai 2023 beim Spiel gegen Mainz im TV-Einsatz. Wann hatten Sie das Gefühl, dass das für Dortmund schiefgehen würde?
Da gibt es eine Geschichte, Sie erinnern sich vielleicht, dass da ein Schwarm Bienen am Seitenrand schwirrte. Da habe ich einen großen Bogen drum gemacht, deshalb führte mich mein Weg auf die Pressetribüne durch den Spielertunnel. Ich habe in die Gesichter der BVB-Profis geschaut und mir gedacht: Entweder hauen die Mainz hier komplett aus dem Stadion, weil sie total im Fokus sind. Oder die haben die Hosen komplett voll. Es war dann wohl Letzteres.
Das war sicher auch kein ganz so einfacher Arbeitstag für Sie?
Ich hätte nicht gedacht, dass mich etwas so berühren kann bei einem Klub, von dem ich selbst kein Fan bin. In den Gesichtern von so vielen Leuten eine solche Trauer zu sehen – das konnte man dann auch mir selbst ansehen. Was mir in Erinnerung bleibt, ist wie Karim Adeyemi drei Meter von mir entfernt auf dem Boden liegt und ein Kameramann eine Nahaufnahme macht. Da kam ein Mitarbeiter der Presseabteilung und hat ihn rundgemacht. Die Interviews haben wir bewusst einfach gehalten. Da ging es darum, die Leute aus der Seele sprechen zu lassen. Den Tag werde ich jedenfalls nie vergessen, aber nicht in einer positiven Art und Weise.